Streetwork, die Aufsuchendearbeit
Unser Streetwork-Team geht regelmäßig ins Rotlichtmilieu. In den Bordellen bieten wir den Frauen Deutschkurse an und bauen freundschaftliche Beziehungen zu ihnen auf. Wir informieren über die gesetzliche Lage der Prostitution in Deutschland und vermitteln kostenlose, ärztliche Behandlungen. Wir zeigen ihnen Wege zum Ausstieg aus der Prostitution auf und sichern Unterstützung zu.
Wo wir unterwegs sind
Wir besuchen die Betroffenen dort wo sie sind: in offiziellen Bordellen, auf der Straße und in Wohnungsbordellen im Raum Stuttgart. Unser Ziel ist es, dass jede Person einen Zugang zu Informationen und Beratung bekommt.
Warum wir ins Rotlichtmilieu gehen
Man könnte denken, dass die Frauen sich freiwillig prostituieren oder gar Spaß an ihrer Arbeit haben, denn jede Frau begegnet uns mit einem Lächeln. Und auf die Frage „Wie geht’s“ – folgt stets ein „Gut“. Aber wenn man sich mit ihnen unterhält und sich Zeit nimmt, dann gewähren sie manchmal einen Einblick, wie es ihnen wirklich geht.
Wir treffen in den Bordellen auf Frauen, die nicht in der Prostitution tätig sein wollen. Sie träumen von einem Leben in ihrer Heimat, mit einem Zuhause und Kindern.
Da viele Frauen häufig die Bordelle wechseln oder wir immer wieder auf neue Frauen treffen, ist diese aufsuchende Arbeit unverzichtbar. Bei Bedarf begleiten wir zu Ämtern oder Arztterminen und unterstützen bei der Kontaktaufnahme zu Schutz- und Ausstiegshilfen. Unser Handeln ist kultursensibel, respektvoll und ressourcenorientiert – immer ausgerichtet an den individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten der Frauen, um ihnen Perspektiven jenseits von Ausbeutung und Gewalt zu eröffnen.
Wir sehen verschreckte Frauen, blaue Flecken und Schlimmeres. Drogen, die helfen sollen alles besser zu ertragen oder die Frauen widerstandslos bzw. gefügig zu machen. Wir sehen und hören von Gewalt, von Schlägen und Messerangriffen. Wir treffen oft auf Frauen, die unter Zwang oder aus Armutsgründen in der Prostitution sind. Auf selbstbestimmte Sexarbeit treffen wir in den Bordellen, die wir besuchen, kaum.
Darum plädieren wir für eine gesetzliche Änderung, um die Mehrheit zu schützen!
Lebenswelt der Frauen, mit denen wir es zu tun haben
Die Frauen des Stuttgarter Prostitutionsgewerbes sind größtenteils aus Osteuropa und Betroffene von Armuts- und Zwangsprostitution. Sie kommen aus den ärmsten Regionen oder aus den Elendsvierteln der Großstädte ihres Landes.
Die Frauen mit denen wir in Kontakt stehen, verfügen meist nicht über eine separate Wohnung zur „Arbeitsstätte“. Sie haben keinen festen Wohnsitz und sind nicht krankenversichert. Den Großteil ihres Einkommens schicken sie an ihre Familie oder müssen es ihrem Zuhälter abgeben.
Osteuropäische Armutsprostituierte aus Rumänien, Bulgarien, Ungarn
Ein Teil der Osteuropäerinnen entstammen der dortigen Unterschicht und haben in ihren Herkunftsländern keine realistische Chance auf einen dauerhaften Arbeitsplatz, mit dem sie sich und ihre Familie ernähren können. Ihnen fehlt die Perspektive, irgendwann der Armut entkommen zu können. Diese Frauen haben zumeist die Schule besucht und oft auch schon einige Zeit im Heimatland gearbeitet.
Ein anderer Teil der osteuropäischen Armutsprostituierten gehört nicht nur zur Unterschicht ihres Landes, sondern gleichzeitig zur Gruppe der Roma, bzw. der türkischen Minderheit in Bulgarien oder anderen ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen. Diese Frauen haben, wenn überhaupt, oft nur wenige Jahre die Schule besucht und können deshalb mitunter weder lesen noch schreiben. Auffallend viele der roma-stämmigen Mädchen sind das Eigentum ihrer Familie bis sie mit ca. 14 Jahren das heiratsfähige Alter erreichen. Dann werden sie von der Familie ihres zukünftigen Ehemanns der Herkunftsfamilie abgekauft und gehen in dessen Besitz über. Ohne eigene Rechte sind die Frauen den Männern ihrer Familie vollständig ausgeliefert. Mit dieser Erfahrung eines völlig femdbestimmten Lebens, können die Frauen oft nur eine sehr diffuse Vorstellung von einem eigenständigen und freien Leben entwickeln.
Deutschkurs im Bordell
„Sprache ist der Zugang zur Welt“! Viele Frauen, die in Deutschland ihren Lebensunterhalt mit ihrem Körper verdienen müssen, sprechen wenig deutsch. Somit sind sie kaum fähig zu kommunizieren, ihre Rechte einzufordern oder sich überhaupt verbal zu wehren, wenn z. B. vereinbarte Grenzen überschritten werden. Der Lebensmittelpunkt ist das Haus, in dem sie arbeiten oder die Straße, an der sie stehen.
Für viele Jahre haben wir einen Deutschkurs in Stuttgart in einem Bordell angeboten. Hier konnten die Frauen eine Stunde erleben, an der sie an etwas anderes denken konnten. Eine Auszeit. Es war eine Stunde,
- um Hemmschwellen abzubauen, das Haus zu verlassen und vielleicht mal einen Kaffee bei einem Bäcker zu bestellen.
- in der die Frauen lernen sich auszudrücken, um bei einem Arzt anzurufen und die körperlichen Beschwerden mitzuteilen, oder die Polizei zu kontaktieren, wenn sie Gewalt erfahren haben.
- in der sie nicht auf einem Zimmer sitzend oder im Türrahmen ihres Zimmers stehend auf Freier warten müssen.
- in der sie kein Produkt sind, das man kaufen kann.
- in der ihnen Wertschätzung entgegengebracht wird.
Für dieses innovative Projekt haben wir 2019 die Ehrung der Deloitte-Stiftung erhalten, den „Hidden Movers Award“. Mit der gewonnenen Förderung und Unterstützung konnten wir den Deutschkurs weiter ausarbeiten und anderen Vereinen und Organisationen zur Verfügung stellen.